Julian Charrière – An Invitation to Disappear
14/04/18—08/07/18
„Tambora“ – „An invitation to disappear“ so lautet die wörtliche Übersetzung des gleichnamigen Vulkans auf der indonesischen Insel Sumbawa. 1815 sollte sich unter Beweis stellen, wie treffend und schicksalhaft diese Benennung gewählt wurde. In diesem Jahr brach der Tambora aus und die bis heute größte verzeichnete Eruption der Menschheitsgeschichte ereignete sich. Nicht nur die Menschen der Insel selbst fielen dem Ausbruch zum Opfer, sondern die Aschewolke verteilte sich rund um den Globus und ließ die Temperatur bis Europa und Nordamerika sinken. Das Jahr 1816 ging als das „Jahr ohne Sommer“ in die Geschichtsschreibung ein. Der vulkanische Winter, der noch bis ins Jahr 1819 andauern sollte, rief Ernteeinbrüche, Überschwemmungen und Hungersnöte hervor. Aber er brachte auch andere Farben: Die Sonnenuntergänge veränderten sich aufgrund der zahllosen Aerosole in der Atmosphäre. Die Werke William Turners oder Caspar David Friedrichs, die während dieser Jahre entstanden, weisen ein beachtliches Farbspektrum auf. Und so lautet eine These, dass die beiden Maler als Chronisten ihrer Zeit auch die veränderte Sonnenstrahlung eingefangen haben.
Ein warmes, brillantes Rot, das von Orangegelb bis Braunrot changiert, ist die Farbe von Palmöl. Palmöl wird aus dem Fruchtfleisch der Ölpalme gewonnen und bildet einen Rohstoff, der mittlerweile in fast jedem zweiten Supermarktprodukt steckt. Von Margarine bis Schokolade, von Lippenstift bis Hautcreme, von Kerzen bis Waschpulver liefern die Früchte der Ölpalme die Basis dieser Güter. Obwohl dieser Stoff nahezu überall Verwendung findet, ist weit weniger bekannt, wie und wo er gewonnen wird, welche Folgen mit seinem Abbau verbunden sind. Der Anbau in Monokultur, die Vergiftung des Bodens aufgrund von Schädlingsmitteln und die Rodung der Regenwälder zur Vergrößerung der Anbauflächen gehen mit dem Wachsen von Palmölplantagen einher. Ganze Landstriche – vorrangig in Malaysia und Indonesien – wechseln ihr Erscheinungsbild: Durch das starre Raster, in dem die Palmen gepflanzt werden, entsteht eine ganz eigene visuelle Rhythmik. Aus der Luft gleitet der Blick über ein schier endloses Liniengeflecht hinweg, das aus den gezähmten, dicht an dicht gesetzten sternförmigen Kronen der Palmen besteht. Wege durchkreuzen und verbinden die Flächen. Unter den Baumwipfeln erstreckt sich eine Landschaft aus kargem Boden mit herabgefallenen Palmwedeln, teils von Gräsern und Bodendeckern überzogen.
„Wie eine weithin leuchtende Feuersbrunst stand das Abendrot am westlichen Himmel; gelbe, violette und rote Lichter zuckten dort hin und her“ so beschreibt Heinrich Bechtolsheimer den rheinhessischen Oktoberhimmel des Jahres 1816 in Das Hungerjahr [1]. Farbige Blitze erhellen die dunkle Nacht in einem dicht bestellten Palmacker. Harte, elektronische Rhythmen in Endlosschleife durchschneiden die endlose Ruhe des Baumfeldes. Eine Palmölplantage erbebt von Licht und Klang geschüttelt. Die Szenerie schwankt zwischen verheißungsvoll und bedrohlich. Wir befinden uns in der Ausstellung An Invitation to Disappear des Schweizer Künstlers Julian Charrière. Die gleichnamige Werkreihe erstreckt sich über die drei horizontalen Hallen der Kunsthalle Mainz und folgt einer Choreografie. Schritt für Schritt, Raum für Raum nähern sich die Besucher einem Rave. Sie folgen den Rhythmen und Klängen der elektronischen Musik, tauchen immer tiefer ein in eine von Nebelschwaden verschleierte Szenerie bis sie in das Herzstück der Ausstellung vordringen: Ein Film, der auf einer Palmölplantage in Fernost gedreht wurde. Ein Film, der einem durch Musik verursachten Rauschzustand den exzesshaften Raubbau an der Natur zur Seite stellt. Die Allgegenwärtigkeit des Stoffes Palmöl findet ihre Analogie in der Abwesenheit unseres Interesses an dessen Gewinnung; die physische Absenz des Menschen schlägt in eine Omnipräsenz seiner Handlungen um. Bild und Sound verdichten sich zu Metaphern für den menschlichen Fortschrittglauben, kurzlebige Interessen und deren massive Folgen. Gleichzeitig beschwören sie kollektive Trancezustände und Erfahrungen der Überzeitlichkeit herauf.
Kuratiert durch Stefanie Böttcher.
[1] Heinrich Bechtolsheimer: Das Hungerjahr, Wiesbaden 1919, S. 117.
Die Ausstellung wird unterstützt durch die Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur, Pro Helvetia, Ernst & Olga Gubler-Hablützel Stiftung, Mainzer Volksbank eG und The Shifting Foundation.